Unbeeindruckt, unbeirrbar und stets nah dran

Die Choreografin Birgit Freitag hat den FAUST gewonnen.
Ein Portrait von Sebastian Rest / November 2019

 

Der obligatorische Tanzkurs im Kontext ihrer Konfirmation und das Showballett der abendlichen Fernsehsendungen waren bis zum Studium Birgit Freitags einzige Begegnungen mit Tanz. Auch ihr Studienfach „Sozialwesen“ hatte zunächst nicht viel damit zu tun. Birgit Freitag ist eine Quereinsteigerin: Die Geschichte, warum sie schließlich doch Tänzerin und Choreografin wurde und am 9. November in Kassel, in unmittelbarer Nähe zum Ort ihrer Kindheit, den Deutschen Theaterpreis DER FAUST gewonnen hat, führt demnach über Umwege. Der rote Faden, der sich durch ihr Leben und Arbeiten zieht, ist dabei das Interesse an Menschen, an persönlichen Geschichten und Erzählungen.

Der erste prägende Kontakt zur Bühne kam über einen Theaterkurs im Rahmen ihres Studiums. Darauf folgte ein Anerkennungsjahr beim Zentrum für Jugendtheater und Schulspiel in Stuttgart, wo ihre Begeisterung für Theater so verfestigt und bestärkt wurde, dass sie nicht in den Beruf der Sozialarbeiterin einstieg, sondern eine Schauspielausbildung an einer freien Schauspielschule in Bremen anschloss. Über eine Gastdozentin aus New York wurde sie schließlich mit zeitgenössischen Tanzformen bekannt gemacht, wodurch sich ihre Begeisterung für die Bühne noch einmal konkretisierte und die Verbindung von Körper und Bewegung zentral wurde. Dieser verhältnismäßig kleine Abschnitt ihres Schauspielstudiums eröffnete ihr so eine ganz andere, bis dahin nicht bekannte Welt, obgleich die Entscheidung, diese zu betreten, erst später kam: Es war ihre eigene Arbeit, mit der sie sich selbst davon überzeugte, Tänzerin und Choreografin zu werden. BlauGrünHell hieß ihr Tanz-Solo, das sie nach der Bremer Schauspielausbildung erarbeitete und das ihr den Mut gab, diesen Weg weiter zu gehen, sich immer wieder auszuprobieren, frei zu entwickeln und ihren eigenen Zugang zum Tanz zu finden.

In New York ist alles möglich
Es folgten Jahre der Tanzausbildung in verschiedensten Kontexten, eigener Unterricht, eigene Projekte, Kooperationen und zwei Aufenthalte in New York. Dort war sie mit ihren damals 27 Jahren noch nicht zu alt um Tänzerin zu werden und wurde mit den Techniken vertraut, die bis heute für ihre Arbeit maßgeblich sind.
Ihr Interesse am Menschen und seinen ganz individuellen Geschichten wurde in dieser Zeit um die Kategorie der Bewegung erweitert und so mit der Kunstform Tanz verknüpft. Neben der Arbeit mit professionellen Tänzer*innen, liegt ihr Fokus daher auch auf dem nicht tänzerisch ausgebildeten Körper. Damit verbunden ist der Aspekt, dass Freitag bevorzugt mit Menschen verschiedener Generationen arbeitet.

Zwischen Eigenheit und Technik
Dieser Ansatz, bei der künstlerischen Arbeit vom jeweiligen Menschen und seiner ganz eigenen Körperlichkeit und Lebenserfahrung auszugehen, prägt die Arbeiten von Freitag bis heute. Sie ist dabei aber kein Feind von Technik. Im Gegenteil, sie misst der Technik einen hohen Stellenwert für eine anspruchsvolle künstlerische Arbeit zu, und so zeichnen sich ihre Stücke auch dadurch aus, dass der unausgebildete Körper und ein gewisser Umgang mit tänzerischen Techniken sich ergänzen und beides für die Bühne produktiv gemacht wird. Wenn dann auf der Bühne mit Tanz Geschichten von und über Menschen erzählt werden, kommen „Bewegungsporträts zwischen Fiktion und Wirklichkeit“ zur Aufführung, wie die Tanzwissenschaftlerin und Journalistin Gabriele Wittmann treffend beschreibt. In Freitags für den FAUST nominierten Stück Für Vier wird die Bühne demnach zur Begegnungsplattform, auf der sich vier Menschen, zwei Altersgruppen, zwei ausgebildete Körper und zwei unausgebildete Körper, treffen und sich im Spannungsfeld zwischen Gruppe und Individuum – sowie Wahrheit und Fiktion – zu sich und ihrer Umwelt verhalten. Im Spiel mit Authentizität positionieren sich die vier Menschen dabei immer wieder neu und hinterfragen so die eigene Identität und ihre Beziehungen in wechselnden Konstellationen: vom Solo zum Quartett, vom Bild der vierköpfigen Familie zur gemeinsamen Choreografie vierer Individuen und vom Zweikampf zum Partnertanz.

Unbeeindruckt geblieben
Der Ansporn durch die eigene Praxis, durch das unbeeindruckte Selber-Machen, sich selbst auszubilden und sich den Tanz anzueignen, hat Freitag über die Jahre zu der Choreografin gemacht, die sie heute ist. Seit 15 Jahren folgt sie nun ihrem Weg, professionell Tanz mit Nicht-Profis zu machen. 2017 wurde sie mit Eins zu Eins zum Augenblick Mal! Festival eingeladen. DER FAUST für das Nachfolgestück Für Vier ist eine weitere bundesweite Wertschätzung dieser Arbeit.